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2005/1 Bibliotheken für eine lernende Nation: Beispiel Singapur/ Die kritische Würdigung des «Branchendudens»

Investing in a Learning Nation – Bibliotheken für eine lernende Nation

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Das Beispiel Singapur

Die Zukunft gehört den Ländern, deren Bürger Informationen, Wissen und Technologie produktiv zu nutzen verstehen. Dies sind heute die wichtigsten Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg, nicht klassische Rohstoffe und Produktionsverfahren.»

Mit dieser Aussage machte der Premierminister von Singapur in seiner Rede zum Nationalfeiertag 1993 deutlich, welche Strategie seine Regierung verfolgt. Das Singapur des 21. Jahrhunderts soll ein «Science hub», eine Insel für Bildung, Lehre und Forschung werden.

In Singapur hat die Regierung aber auch erkannt, dass Bibliotheken für eine lernende Nation von grösster Bedeutung sind. 1992 hat sie das Library 2000 Review Committee beauftragt, das Bibliothekswesen des Landes umfassend zu untersuchen und einen Entwicklungsplan für das 21. Jahrhundert zu erarbeiten. Zwei Jahre später lag der Abschlussbericht mit folgenden strategischen Empfehlungen vor:

- Das öffentliche Bibliothekssystem muss anpassungsfähig, flexibel und gut erreichbar sein.

- Alle Bibliotheken Singapurs sind über ein Computernetzwerk national und international zu vernetzen.

- Der Bestandesaufbau ist national zu koordinieren.

- Dienstleistungen orientieren sich am Markt.

- Bibliotheken arbeiten mit Wirtschaft und Gesellschaft zusammen.

- Die Nationalbibliothek wird zum Informationszentrum für weite Teile Asiens und damit zur Schnittstelle zwischen Ost und West ausgebaut.

Aufgrund dieser Empfehlungen verabschiedete das Parlament 1995 den National Library Board Act und richtete das National Library Board (NLB) ein.

National Library Board (NLB)

Die folgenden Zitate aus dem Zweckartikel des NLB fassen die politische Zielsetzung in zwei Sätzen zusammen: «To expand the learning capacity of the nation so as to enhance national competitiveness and to promote a gracious society.» «To deliver a world-class library system which is convenient, accessible and useful to the people of Singapore.»

Als Behörde mit Exekutivkompetenz verfügt das NLB über eine umfassende Entscheidungs- und Handlungsautonomie und zudem über Finanzkompetenzen, die es ihm ermöglichen, Entwicklung und Funktion der öffentlichen Bibliotheken des Landes zentral zu steuern und zu kontrollieren.

Das NLB leitet die Nationalbibliothek, die Regionalbibliotheken und alle öffentlichen Bibliotheken des Landes, ist zuständig für die Aus- und Weiterbildung des Bibliothekspersonals und verantwortlich für die Koordination des Bestandesaufbaus. Die gesamten Bestände sind in einem vom NLB aufgebauten Computernetzwerk nachgewiesen. Alle Bibliotheken sind verpflichtet, an einem landesweiten Fernleihsystem teilzunehmen.

Die Schulbibliotheken fallen unter die Zuständigkeit des Bildungsministeriums. Allerdings wurde ein Steuerungskomitee eingesetzt, das dem NLB auch in diesem Sektor weitreichende Einflussmöglichkeiten sichert. Zudem nimmt das NLB auch bei Aufbau und Führung der Universitätsbibliotheken eine beratende Funktion wahr.

Wie erfolgreich das «Modell Singapur» ist, lässt sich mit einigen Zahlen belegen:

                                                     1995                                           2003

Ausleihen                                       14,3 Mio                                      27 Mio

Bibliotheksbesuche                           7,3 Mio                                      31,3 Mio

Bestände

Fläche aller Bibliotheken            50'000m2                                      165'000m2

Bibliotheksnutzung – in Singapur eine Selbstverständlichkeit

Heute werden die öffentlichen Bibliotheken von rund 50% der Einwohnerinnen und Einwohner Singapurs regelmässig benutzt. Bei der Einschreibung wird unterschieden zwischen Basic Membership und Premium Membership. Die Basic Membership ist für Einwohnerinnen und Einwohner von Singapur gratis und erlaubt die Ausleihe von maximal vier Büchern oder Zeitschriften aufs Mal. Die Premium Membership kostet pro Jahr 21 S$ (ca. 17 CHF) und ermöglicht die gleichzeitige Ausleihe von maximal acht Artikeln, inkl. CD, CD-ROM, Video, DVD und Musiknoten.

Hightech ist allgegenwärtig in Singapur. Die Lust der Menschen am Umgang mit neuster Technologie ist auf Schritt und Tritt sicht- und spürbar. Sie macht selbstverständlich auch vor der Bibliothek nicht Halt, im Gegenteil scheint die Bibliothek in dieser Hinsicht sogar Vorreiterin zu sein. Mit den grossen Aufbau- und Erneuerungsmassnahmen um die Jahrhundertwende hat die RFID-Technologie in den Bibliotheken Singapurs Einzug gehalten. Alle Medien sind mit einem Transponder ausgerüstet, der die relevanten Daten enthält. Die Voraussetzung für die Selbstverbuchung ist damit gegeben. Für die Ausleihe stehen in jeder Bibliothek Dutzende von Selbstbedienungsgeräten bereit. Für die Rückgabe hat jede Bibliothek einen während 24 Stunden oder jedenfalls über die Öffnungszeiten hinaus benutzbaren und per Video überwachten Einwurf, wo die Medien zurückgebucht werden. Der Benutzer erhält eine Rückgabequittung. (Die neue Stadtbibliothek in Winterthur arbeitet mit einem vergleichbaren System.)

Die Medien können in jeder beliebigen Bibliothek des Bibliotheksnetzes zurückgegeben werden. Seit kurzem gibt es Einwürfe sogar in Wohnsiedlungen, Einkaufszentren und Postbüros. Man hat den Eindruck, jeder Einwohner der Stadt trage ständig mindestens ein Buch der Bibliothek mit sich. Wenn er es fertig gelesen hat, wirft er es beim nächsten Einwurf ein. Dies führt dazu, dass etwa 20% der Medien nicht in der Bibliothek zurückgegeben werden, in die sie gehören. Bei rund 100 000 täglichen Rückgaben ergibt das die stattliche Zahl von 20000 Medien, die an den richtigen Standort transportiert werden müssen. Dafür ist die Post von Singapur zuständig, die die Medien am Vormittag bei den Bibliotheken und den weiteren Einwürfen abholt und ins Postverteilzentrum bringt. Dort werden die automatischen Sortieranlagen tagsüber nicht für die Sortierung der Post gebraucht, denn dies geschieht während der Nacht. Somit können die Medien der Bibliothek verarbeitet werden, und noch am gleichen Tag oder am andern Morgen bringen die Postfahrzeuge alles in die richtige Bibliothek zurück.

In Selbstbedienung wird aber noch mehr abgewickelt als Ausleihe und Rückgabe. Dass das Konto abgefragt, Verlängerungen und Reservierungen vorgenommen werden können, ist selbstverständlich; dies funktioniert übrigens auch per SMS. Es kann aber auch – ebenfalls rund um die Uhr – die Prepaid-CashCard aufgeladen werden, und mittels National Registration Identity Card Number (NRIC), die jeder Bewohner Singapurs stets bei sich trägt, und die im Normalfall auch als Bibliotheksausweis genutzt wird, ist jederzeit eine Einschreibung als neuer Benutzer möglich. Die Bezahlung der Jahresgebühr und von Mahngebühren erfolgt per CashCard.

Diese weitgehende Selbsttätigkeit der Benutzenden ermöglicht es dem Personal, den grössten Teil seiner Arbeitszeit im direkten Kontakt mit dem Publikum zu verbringen, für Beratung und Unterstützung sowie mit einem eindrücklichen Angebot an Veranstaltungen. Die ausgeprägte Kundenorientierung kommt auch in der Haltung und im Auftreten des Personals zum Ausdruck, das stets freundlich, hilfsbereit und jederzeit ansprechbar ist. Dass die Bibliotheksleitung darauf grössten Wert legt, zeigte sich uns, als in einer der besuchten Bibliotheken ein paar Minuten vor Öffnung über den Lautsprecher auf das baldige Eintreffen der Kundschaft hingewiesen wurde mit dem Nachsatz: «Don’t forget to give them a smile!»

Library Supply Centre LSC

Was ausserdem zur Kundenorientierung beiträgt, ist die Tatsache, dass die Hintergrundarbeiten weitgehend ausgelagert sind, in erster Linie ins LSC. Dort werden jährlich rund 1,2 Millionen Medien in den vier Landessprachen nach klar definierten Anschaffungskriterien ausgewählt und bibliotheksfertig ausgerüstet. Zur Ausrüstung gehört auch das RFID-Label. 2003 betrug der Gesamtbestand 8,2 Millionen. Der Buchbestand wird durch Zeitschriften und auch alle Arten von elektronischen Medien ergänzt: Datenbanken, Online-Nachschlagewerke, elektronische Bücher und Zeitschriften, E-learning tools.

Medien, die in einer Bibliothek während einer gewissen Zeit nicht benutzt wurden, können ins LSC ausgelagert werden. Dort werden sie kistenweise mittels RFID erfasst und sind bei Bedarf schnell wieder greifbar.

Das LSC nimmt zudem einzelne Funktionen der Nationalbibliothek wahr: Es verwaltet die Pflichtexemplare und die Singapur betreffenden Publikationen, erstellt die nationale Bibliographie, den Zeitschriftenindex und den Gesamtkatalog. Wertvolle historische Bestände werden digitalisiert und in geeigneten Räumen aufbewahrt.

In krassem Widerspruch zu den beeindruckenden technischen Möglichkeiten und den qualitativ überzeugenden Dienstleistungen stehen die Arbeitsverhältnisse des überwiegend weiblichen Personals. Die grossen Räume ähneln alten, dunklen Fabrikhallen, die einzelnen Arbeitsplätze stehen dicht beieinander, sind winzig und mit abgenutztem Mobiliar ausgestattet.