Commentaires Résumé
2017/4 Coopération

Materialbetrachtung im Panorama

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Die Datenbank www.materialarchiv.ch ist ein Beispiel für eine seit 10 Jahren gelingende interdisziplinäre und Institutionen übergreifende Zusammenarbeit. In den gemeinsam erarbeiteten Einträgen zu Werkstoffen verdichtet sich ein 360-Grad-Blick auf Materialität.

In der Bibliothek an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) im Toni-Areal findet sich ein Raum, der keine Bücher, Tonträger oder Zeitschriften beherbergt, sondern Materialien. In Form von A4-genormten Mustern werden sie präsentiert, um in Kunst- und Designausbildung ein weiteres Medium zum Wissenserwerb anzubieten: Die Welt der Werkstoffe. Durch die Verzahnung von analogem und digitalem Wissenszugang gelingt die Synthese von physisch erfahrbaren Materialeigenschaften mit theoretischen Hintergründen. Dies ist Basis und Spezialität des schweizweiten Vereins MATERIAL ARCHIV, zu dessen acht Mitgliedern die ZHdK gehört. Ihre auf die gestalterische Ausbildung ausgerichtete Sammlung gehört in ein grosses Ganzes der anderen Materialsammlungen an den Partnerinstitutionen. Das fachübergreifende Netzwerk MATERIAL ARCHIV profitiert direkt von den Vertiefungen und Schwerpunkten der verschiedenen Mitglieder und ihrer engen Zusammenarbeit.

Digitales Wissenskompendium

Um Materialbildung ganzheitlich über sinnliche und analytische Kanäle zu ermöglichen, sind die physischen Muster in allen MATERIAL ARCHIV Sammlungen über RFID-Technologie mit einer Online-Datenbank verbunden, die zu jedem  Material Hintergründe vermittelt. Die frei zugängliche Datenbank wird gemeinsam von den Vereinspartnern bespielt und gepflegt. Gegenwärtig sind Informationen zu über 1000 Materialien abrufbar: Von Holz, Kunststoff, Glas, Stein über textile und tierische Werkstoffe, Pigmente, Gipse, Keramik oder Wachse bis hin zu neuen High-Tech- und Recyclingprodukten. Jeder einzelne Werkstoff wird in seinen grundlegenden Aspekten (wie Eigenschaften, Kennwerte, Herstellungsformen, Geschichte, Ökonomie und Ökologie) vorgestellt. Die seit 2007 aufgebaute Datenbank ist mittlerweile ein breiter Wissensspeicher. Die einzelnen, lexikalisch strukturierten Einträge führen verschiedene Seiten der Materialbetrachtung zusammen und sind Resultat einer engen Zusammenarbeit der Sammlungs- und Erfassungsverantwortlichen der einzelnen Institutionen. Die Herausforderung liegt dabei vor allem darin, quer durch die verschiedenen Institutionskulturen und Hochschulpolitiken zusammenzuarbeiten. Der Verein MATERIAL ARCHIV ist ein Beispiel für das Gelingen und vor allem für den Mehrwert eines solchen Unterfangens. Materialwissen zu vermitteln ist eine komplexe Herausforderung, die durch konstruktive Teamarbeit und die Verbindung unterschiedlicher Disziplinen erst möglich wird. Der 360-Grad-Blick, der sich dabei entfaltet, ist eine Chance, das heterogene Phänomen Materialität zu fassen.

Dem Verein MATERIAL ARCHIV gehören folgende Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen an:

("S" steht jeweils für "Sammlung".)

Vielseitige Betrachtung

Nehmen wir als Beispiel „Kupfer“. Ein Material, das gediegen, also in Reinform, in der Natur vorkommt und in der Menschheitsgeschichte eine Hauptrolle bekleidet. Als Hauptbestandteil von Bronze und Messing generiert es eine Epoche im Dreiperiodensystem (Stein-, Bronze- und Eisenzeit) und ist wichtiges Detail am meist herstellten Kleidungsstück aller Zeiten: der Jeans. In unserem Alltag hat Kupfer grundlegende technische Funktionen inne, etwa in der Elektrotechnik und in Leitungssystemen. Auch in unserer sichtbaren Umgebung ist es präsent: als Blechverkleidung an Dächern und Fassaden, Leitungen im Sanitär- und Heizungsbereich, als Gebrauchsgegenstand und als Schmuck ist es allgegenwärtig. Wird „Kupfer“ im MATERIAL ARCHIV aufgenommen, so ist das Ziel, das Metall aus möglichst vielen verschiedenen Richtungen zu beleuchten. Es werden Legierungen vorgestellt, Anwendungen in Handwerk, Architektur und Design beschrieben sowie das Korrosionsprodukt Grünspan restauratorisch fokussiert. Seine Eigenschaften als Gussmaterial für plastische Kunstwerke und als Druckvorlage für Grafiker und Zeichner lassen technische Beschreibungen in kultur- und kunsthistorische Fragestellungen übergehen, die soziologische und mythologische Bedeutungen mitdenken.

Zusammenspiel von Herz, Hand und Kopf

Die Datensätze werden aus dem Sammlungen heraus fliessend erweitert und ergänzt, so auch „Kupfer“. Die angestrebte, möglichst breite Kontextualisierung ist in der Umsetzung zeitaufwendig. Im Idealfall kann aber durch Verbindung der unterschiedlichen Disziplinen ein Material-Panorama entfaltet werden, welches im Sinne der Wortbedeutung (griechisch: pan = alles, horao = sehen) einen Rundblick ermöglicht. Das dem Datensatz zugehörige physische Materialmuster zu „Kupfer“ ist in standardisierter Form in allen Sammlungen vorhanden. Die Auswahl und Konfektionierung der Muster wird über den Verein organisiert. Hinzu kommen individuell hergestellte Prozess- und Anwendungsmuster in den einzelnen Institutionen. Durch ihre Verlinkung mit dem digitalen Texteintrag treffen hier in der Sammlung Herz, Hand und Kopf des Nutzers zusammen: Anhand haptischer und optischer Erfahrungen bildet sich das Herz eine Meinung (Gefühle werden ausgelöst, Konnotationen aufgerufen), während die Hand über mögliche Bearbeitung und Verwendungen sinniert und der Kopf alles kognitiv durchdringt, sich Fakten anliest und einordnet. An der ZHdK kommt momentan mit dem Aufbau eines neuen Schwerpunkts zu klingenden Materialien und Klangbausteinen in Musikinstrumenten das Ohr als Materialforscher noch hinzu.

Materialvermittlung als Bildungsanliegen

Die Besinnung auf Echtheit, Materialität und Dingkultur ist einerseits eine Gegenbewegung zur zunehmenden Digitalisierung weiter Teile unseres Alltags, zugleich reagiert sie jedoch auf ein reelles Problem: Nachhaltigkeit und Ökobilanzen von Materialien werden immer wichtiger und erfordern ganzheitliches Materialwissen. In der Gestaltung von Produkten, Gebäuden oder Trends sollte heute kritisch mit Konsumkultur und Massenproduktion, mit sozialen Fragen und Ressourcenschonung umgegangen werden. Die Suche nach dem Panorama der Materialbetrachtung ist dabei eine gemeinschaftliche Bildungsaufgabe des MATERIAL ARCHIVS, die zur Reflektion beitragen soll.

Müller Reissmann Franziska 2017

Franziska Müller-Reissmann

Franziska Müller-Reissmann ist Tischlerin und Kunsthistorikerin und seit 2007 Mitarbeiterin in den Sammlungen des Museum für Gestaltung Zürich. Seit 2011 leitet sie zusätzlich die Materialsammlung im Medien- und Informationszentrum der ZHdK und vermittelt Materialwissen in der Design- und Kunstausbildung

Résumé

Dass Werkstoffe sprechen und sich daher auch lesen lassen, ist die Grundannahme dafür, eine Sammlung von Materialmustern in eine Bibliothek zu integrieren. Im Verein MATERIAL ARCHIV steht diese Design-Perspektive neben weiteren gestalterischen und technischen Positionen: der Architektur, der Kunstproduktion oder der Restaurierung. Alle zusammen ermöglichen einen 360-Grad-Blick auf Materialität. Dieser Blick verdichtet sich auf der Datenbank www.materialarchiv.ch, die ein Beispiel für eine interdisziplinäre und Institutionen übergreifende Zusammenarbeit ist.

Que les matières parlent et peuvent ainsi être lu, est la supposition de base pour intégrer une collection d’exemples de différents matières dans une bibliothèque. Pour l’association MATERIAL ARCHIV cette perspective design est positionnée à côté d’autre aspects créateurs et techniques : l’architecture, la production d’art ou la restauration. L’ensemble de ces aspects permets une vue de 360 degrés sur la matérialité. Ce point de vue est condensé dans la base de données www.materialarchiv.ch, qui est un exemple pour une collaboration interdisciplinaire et transinstitutionelle.